Paranoia TV

steirischer herbst ’20
24. September–18. Oktober

Im Einklang mit seinen Wurzeln in der Avantgarde findet der steirische herbst dieses Jahr in einer außergewöhnlichen neuen Form statt, die die von Angst und Unsicherheit geprägte Atmosphäre der heutigen Zeit aufgreift.

Wir befinden uns mitten in einem Jahr, das bis jetzt alles andere als „normal“ verlaufen ist. Viele Menschen sind verängstigt, wenn nicht gar ein bisschen paranoid. Die Angst vor einer zweiten Welle fördert eine Abscheu vor öffentlichen Räumen – und vor dem Atem potenziell ansteckender Fremder. Noch grundlegender aber ist die Angst vor uns selbst: Jeder von uns könnte das tödliche Virus asymptomatisch verbreiten. Diese Ängste werden so bald auch nicht verschwinden. Es ist schwer genug, sich vorzustellen, dass das Leben nie wieder zur Normalität zurückkehrt. Es ist jedoch nicht weniger beängstigend, sich heute, nach dem „Lockdown“, an diese Normalität zu erinnern. Offensichtlich ist das Virus nicht schuld an Fremdenfeindlichkeit, an einem als hygienische Norm getarnten Rassismus, an allgegenwärtiger Überwachung und an radikaler Ungleichheit. All das war bereits „normal“, und es ist diese „Normalität“, die das Virus hervorgebracht hat – und die wir fürchten sollten.

Anstatt diese Themen zu verdrängen, setzt sich der steirische herbst direkt mit ihnen auseinander, indem er sich als Medienkonzern neu erfindet. Paranoia TV nennt sich der Kanal für das Unheimliche und Beunruhigende, der aus einem dystopischen Paralleluniversum sendet, in dem es so etwas wie Kultur zur Besänftigung der Gemüter nicht gibt. Die Social-Distancing-Regeln gelten nach wie vor, Fußballspiele und Partys sind verboten, und selbst die Waren im Supermarkt haben Ohren. Kunst wird direkt nach Hause geliefert, Künstler*innen müssen in ihrer Küche arbeiten, das Private ist noch politischer geworden, und der öffentliche Raum lässt sich nur noch einsam und schlafwandlerisch durchqueren. White Cubes, teure Kunsttransporte und weltweite Jetset-Reisen: Könnte es sein, dass man sie nicht vermissen wird?


Paranoia TV ist überall

Zwischen 24. September und 18. Oktober sendet Paranoia TV auf den unterschiedlichsten Frequenzen. Die Sendungen sträuben sich vehement gegen „normale Formate“ und tauchen kopfüber in das unheimliche Tal der „Lockdown“-Nostalgie ein. So werden zum Beispiel auf der gekaperten Website des steirischen herbst unter anderem von Künstler*innen produzierte Talkshows, Fernsehserien sowie Live-Gespräche und Diskussionsrunden ausgestrahlt. Einige Programme weiten sich zu physischen Interventionen auf den Straßen von Graz und der Steiermark aus, während reale Ereignisse und Performances ihren Weg von ebendiesen Straßen in Live-Übertragungen und Nachrichtenberichte finden. Auch Handys sind vor Paranoia TV nicht sicher: Kurz vor Festivalbeginn steht eine eigens entwickelte kostenlose App zum Download bereit. Sie bietet die Möglichkeit, zu jeder Zeit und an jedem Ort in die Welt von Paranoia TV einzusteigen, um einen Überblick über das Programm zu erhalten, Beiträge zu lesen/hören/sehen oder sich per Eilmeldungen über die neuesten Entwicklungen zu informieren.


Kunst in unsicheren Zeiten

Paranoia TV antwortet künstlerisch-kritisch auf die globale Pandemie und die durch sie verursachten Einschnitte – nicht nur in unser tägliches Leben, sondern auch im Hinblick auf die Durchführung von Kulturveranstaltungen. Als dritte Ausgabe des steirischen herbst unter Intendantin Ekaterina Degot zeigt das Festival weiterhin ausschließlich neue Auftragswerke. Das experimentelle Format ermöglicht es, dass diese unabhängig von (potenziellen) „Lockdown“-Maßnahmen realisiert werden können. Beiträge von rund vierzig Künstler*innen setzen sich direkt oder indirekt mit den Dringlichkeiten und Missständen unserer Zeit auseinander: die neuen Verwundbarkeiten in Bezug auf Alter und Geschlecht, die Komödien und Dramen der Häuslichkeit, die wiedergefundene Begeisterung für die klassische Oper, die Choreografie von Bewegungseinschränkungen, Klasse, Geld, Umarmungen, die Biopolitik der Ansteckung, die Selbstisolation des weißen Mannes in sterilen autonomen Zonen und die Hoffnung auf eine unerwartete Zukunft.